Auch blinde und sehbehinderte Frauen kleiden sich gern modisch. Materialien und Schnitte können sie erfühlen, beim Erleben von Farben hilft eine Boutiquebesitzerin aus Aue mit Musik.
Aue (dpa/sn) – Behutsam tastet Birgit Kaiser an dem glänzenden Pullover. Sie befühlt zunächst das Material, greift dann nach dem Ausschnitt. «Weite Ausschnitte sind nicht meins», sagt die 39-Jährige. Doch das Kleidungsstück, das ihr die Freundin Gabriele Weck hinhält, ist hoch geschnitten und kommt daher in die engere Wahl. Bliebe noch die Frage nach der Farbe. Der Hinweis Champagnerfarben nützt der Schneebergerin allerdings nichts.
Seit ihrer Kindheit ist sie auf dem rechten Auge blind. Links habe sie bis vor einigen Jahren zumindest noch eine kräftige Farbe wie Rot erkennen können. «Inzwischen sehe ich nur Kontraste, kann hell und dunkel unterscheiden, eine Lampe erkennen. Bei einer Kerze wird es schwierig», versucht sie sehenden Menschen zu erklären, was nicht zu erklären ist.
Farben kenne sie nur noch aus der Erinnerung als Kind. Aber diese Erinnerung verblasse mit der Zeit. «Farben sind irgendwann nur noch eine theoretische Größe.» Neue Nuancen wie Nude oder Taupe, die zu DDR-Zeiten als schlichtes Beige zusammengefasst wurden, sagten ihr hingegen gar nichts.
Annett Krones hat dennoch versucht, blinden und sehbehinderten Menschen das Unbekannte zu vermitteln. Die Inhaberin einer kleinen Modeboutique im erzgebirgischen Aue bietet in Zusammenarbeit mit dem Verein Blinder und Sehbehinderter Aue-Schwarzenberg eine Stil- und Farbberatung an.
Im Freistaat leben laut Schätzungen des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen etwa 10 000 blinde und 25 000 sehbehinderte Menschen. Der sächsische Ableger ist einer von 20 Landesvereinen, die sich unter dem Dach des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands organisiert haben.
«Die größte Hürde war für mich die Frage, wie ich Frauen Mode erkläre, die die Welt ganz anders wahrnehmen als ich», berichtet Krones. Die 54-Jährige hat keinerlei Schwierigkeiten mit dem Sehen, konnte sich also zunächst auch nicht vorstellen, ob und welche Rolle beispielsweise Farben für Nicht-Sehende spielen.
Sie machte sich daher ihre zweite Leidenschaft zunutze, um Birgit Kaiser und ihren Freundinnen Farben nahe zu bringen: Musik. Beethovens Neunte Sinfonie und die tiefen Molltöne des bekannten Stücks stehen für Schwarz. Feuriger Tango macht Rot erlebbar, ein Blues von Aretha Franklin frisches Grün, und Pink wird durch Lou Begas Hit «Mambo No. 5» hörbar. «Die Idee, Farben mit Musik zu erklären, finde ich sehr passend, denn auch blinde Menschen assoziieren etwas mit Farben, selbst wenn wir sie nicht sehen», sagt Birgit Kaiser.
Das Gleiche gelte für Mode. Nur weil sie sich selbst nicht im Spiegel anschauen könne, wolle sie dennoch gut aussehen und ihre Persönlichkeit über Kleidung ausdrücken wie jeder andere auch. «Ich will genauso die Anerkennung der anderen und brauche diese Selbstbestätigung», meint die Rechtspflegerin.
Gabriele Weck liebt Kleidungsstücke, die nicht jeder hat. Zuletzt habe es ihr eine schwarze Hose mit Lederapplikationen angetan. Die 56-Jährige ist nicht blind, aber hochgradig sehbehindert. Sie könne zwar einzelne Farben noch voneinander unterscheiden, dunkle Töne jedoch seien für sie alle gleich. Hinzu komme ein eingeschränktes Gesichtsfeld, das sich mehr und mehr zum Tunnel verenge.
Große Bekleidungsgeschäfte, in denen die Textilien meist farblich sortiert und die verschiedenen Größen durcheinander hängen würden, verlassen beide Frauen meist frustriert. Bei Annett Krones hingegen finden beide das, was ohne Augenlicht beim Einkaufen am wichtigsten sei: Vertrauen. «Jemand, der mir ehrlich sagt, ob ich das anziehen kann oder nicht», so Birgit Kaiser. Für die Boutiqueinhaberin wiederum sind solche engen Kundenbeziehungen wichtig, um in einer Kleinstadt zu bestehen und den abwandernden Umsätzen ins Internet etwas entgegenzusetzen.
Blinde und sehbehinderte Menschen: Keine statistische Erfassung
Aue/Dresden (dpa/sn) – Nach Schätzungen des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen leben im Freistaat etwa 10 000 blinde und 25 000 sehbehinderte Menschen. Genau statistische Angaben gibt es demnach nicht. «Blinde und sehbehinderte Menschen werden statistisch nur erfasst, wenn sie Leistungen wie beispielsweise das Landesblindengeld beantragen und bekommen», erläutert Landesvorsitzende Angela Fischer.
Da sehr viele Menschen erst im höheren Alter erblinden, sei demnach ungewiss, ob sie diese Leistungen kennen. Zudem würden viele Menschen mit einer Sehbehinderung ebenfalls nicht erfasst, weil sie keinen Anspruch auf einen so genannten Nachteilsausgleich hätten. Diese Hilfe gewährt das Sozialgesetzbuch behinderten Menschen, um eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dem Statistischem Landesamt Sachsen zufolge erhielten 2015 rund 6300 Menschen Landesblindengeld und 9200 einen Nachteilsausgleich.
Der sächsische Blinden- und Sehbehindertenverband ist einer von 20 Landesvereinen, die sich unter dem Dach des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands organisiert haben. Bundesweit gibt es demzufolge etwa 150 000 blinde und eine halbe Million sehbehinderte Menschen. Die Organisation fordert seit Jahren eine empirische Erfassung, weil Verantwortliche bislang auf Vermutungen angewiesen seien, wo sie Planungssicherheit bräuchten, wie der Verband auf seiner Internetseite schreibt. Laut Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation liegt die Zahl mit mehr als einer Million deutlich höher.
(Quelle: Claudia Drescher, Freie Journalistin im Auftrag dpa, Deutsche Presse-Agentur GmbH)