Jürgen Klapschuweit orientiert sich mit dem Blindenstock am Heinrichsplatz

Blind durch Meißen: Der Umweg ist immer der sichere

Ein Blinder im Kino. Was wie ein schlechter Witz klingt, ist gar keiner. Wie wenig man eigentlich über Menschen mit diesem Defizit weiß, offenbart ein Test in Meißen.

Von Andre Schramm, Sächsische Zeitung Meißen vom 12.04.2022

Bild: Fotografin Claudia Hübschmann

Meißen. 

Ich hab mich mit Jürgen Klapschuweit verabredet. Der 42-Jährige ist blind. Die Idee: Wie kommen blinde Menschen klar – in Meißen und im Alltag? Also geht es auf einen Spaziergang durch die Stadt. Jürgen Klapschuweit wartet an diesem sonnigen Vormittag in Bohnitzsch auf mich – Kaffeebecher in der einen, Blindenstock in der anderen Hand. Es ist die erste Gelegenheit, um gleich ein nützliches Blindenutensil kennenzulernen: das „Stock-JoJo“, eine kleine Clipbefestigung, um den Blindenstock am Pullover zu fixieren. Ganz hilfreich, um guten Tag zu sagen.

Dass wir uns hier oben an der Ampel unweit des Gerichtsweges getroffen haben, ist kein Zufall. Die Lichtsignalanlage verfügt über keinerlei akustische Hinweise für Blinde. „Ich weiß, dass sich hier eine Ampel befindet. In einer fremden Stadt wäre sie für mich unsichtbar“, sagt Klapschuweit. Ich soll die Augen schließen und nach Gefühl loslaufen, wenn ich glaube, dass grün ist. Mir ist unwohl dabei. Man hört die Motoren runtertouren. Das müsste es sein. Nichts wie los. Geschafft. Er drückt mir nun den leeren Kaffeebecher in die Hand, und seinen Blindenstock. Die Aufgabe diesmal: Mülleimer finden und Becher entsorgen. Ich touchiere eine Kindergruppe an der Haltestelle. Alle sind nett, haben Verständnis. Den Mülleimer finde ich ohne zu schummeln nicht.

Hindernis in Gesichtshöhe

Mein Guide kann nicht betrügen. Er ist zu fast 100 Prozent erblindet. Das war nicht immer so. Sein Augenlicht verlor der Meißner erst vor fünf Jahren. Eine Spätfolge von Diabetes. „Das rechte Auge war nach vier Monaten, das linke nach zwei Wochen weg“, sagt er. Es sei nun wie durch eine dicke Milchglasscheibe zu schauen. Was ganz nah vor seinen Augen sei, könne er als Schatten schemenhaft erkennen. Trotz des Schicksalsschlags verfiel der gelernte Verwaltungsfachangestellte nicht in Selbstmitleid. „Es musste ja weitergehen. Und es gibt Menschen, die es weitaus schlimmer erwischt hat“, erzählt er. Was folgte, waren 40 Stunden Mobilitätstraining.

Wir haben die Tzschuckestraße überquert, als der 42-Jährige plötzlich stoppt. Geäst ragt über die Grundstücksgrenze – in Gesichtshöhe. Diese Gefahr konnte nicht mit dem Blindenstock ertastet werden. Wie dann? „Ich kenne die Stelle aus Erfahrung“, schmunzelt Klapschuweit. Seine große Brille schützt etwas vor derlei unschönen Begegnungen. Ihr Zweck ist ein anderer. „Es ist eine sogenannte Kantenfilterbrille, die blaues Licht herausfiltert“, sagt er. Ohne diese Brille würden an diesem sonnigen Tag einfach die Augen irgendwann schmerzen.

Hier, wo Mannfeldstraße und Trinitatiskirchweg gemeinsam in die Großenhainer Straße münden, gibt es die erste große Herausforderung. Von vier Seiten können Fahrzeuge kommen. Dazu gesellt sich der lautstarke Verkehr auf der Bundesstraße. Klapschuweit verlässt sich, wie so oft, auf sein Gehör. In Blindenkreisen gibt es ein Sprichwort: Der Umweg ist immer der sichere. Hieße in diesem Fall: Ein Stück in die Straßen hineinlaufen und alle separat überqueren. Was mir auffällt, mein Gesprächspartner hält sich die ganze Zeit an Hauswänden und Fußwegkanten. „Sie bieten die beste Orientierung für uns“, sagt er. Apropos: Die Haltestelle „Bennoweg“ findet er sehr blindenfreundlich. Dort verlaufen die hellen Rippenplatten quer über den Fußweg. „Für mich das Zeichen, dass sich hier eine Haltestelle befindet“, sagt er. Oftmals sei dieses Orientierungssystem nur an der Bordsteinkante angebracht. Da laufe man schnell vorbei.

Die App, die Geldscheine erkennt

Wir unterhalten uns schon eine halbe Stunde. Was weiß mein Gesprächspartner eigentlich über mich? Er schätzt mich gleich groß, zwischen 39 und 41 und liegt damit richtig. Natürlich gibt es dafür heutzutage auch eine App. Klapschuweit macht mit dem Smartphone ein Bild von mir. Ich bin überrascht, einmal über das korrekte Alter und dann über die grauen Haare, die von der freundlichen Stimme angesagt werden. Für das Erkennen von Farben, Landschaften und Geldscheinen taugt „SEEING AI“ auch. Es soll schließlich Menschen geben, die Blinde bescheißen. Zum Glück besitzt Geld eindeutige Merkmale, die man fühlen kann: Bei Hartgeld ist es die unterschiedliche Struktur des Randes, bei Scheinen eine Schraffur.

Im Joachimstal sind einige Baustellen am Straßenrand eingerichtet. Früher habe man sie größtenteils nur mit Warnbaken abgesperrt. Heute stehen fast ausnahmslos überall Zaunsfelder. Das sei auch für Kinder besser, sagt Klapschuweit. Ein Sturz in eine Grube könne böse ausgehen. Er weiß, wovon er spricht. Auf der Zscheilaer Straße wartet wenig später Ungemach. Pendelt ein Blinder hier in einem ungünstigen Zyklus mit seinem Blindenstock, dann entgehen ihm die kniehohen Betonsteine. An der nächsten Ampel fehlt das akustische Signal, also gibt es einen Umweg über die anderen Lichtsignalanlagen. Das rhythmische Knacken verrät, welche Ampel barrierefrei ist. Mittels eines Schalters unter dem Bedarfsmelder kann das laute Piepsen für die Grünphase aktiviert werden.

Wie flirten Blinde eigentlich?

Es geht Richtung Bayerlein-Platz. Unweit der Pestalozzi-Oberschule gibt’s kein Durchkommen. Der Bauhof pflegt gerade den Grünstreifen. Freundlich helfen die Mitarbeiter(innen) am Fahrzeug vorbei. „99 von 100 Menschen sind hilfsbereit“, sagt Klapschuweit. Wenig später sind wir am Busbahnhof angekommen. Ich habe inzwischen eine Simulationsbrille auf. Mein Sehvermögen beträgt nur noch zehn Prozent. Unter diesen Umständen den richtigen Bus zu finden ist zwecklos. Ich frage die Busfahrerin und bekomme freundlich eine Antwort. Das Blindenleitsystem am Boden ist gerade noch so zu erkennen. Dort, wo sich die viereckigen Einstiegsfelder befinden, muss normalerweise die Tür vom Bus öffnen. Das funktioniere nicht mehr so gut wie früher, sagt der 42-Jährige. Die beiden Fußgängerüberwege am Busbahnhof sind nur teilweise oder gar nicht blindengerecht. Was fehlt, ist der Auffindestreifen, also die Rippenplatten im Boden. Es geht über die Ampel und hoch zur Vorbrücker Straße. Dort ist ein Fußweg auf den Asphalt gemalt. „Für Blinde ist der nicht da“, sagt mein Kumpane. Der Streifen endet wenig später in dem Kleinwagen einer Mutter, die ihr Kind von der Freien Werkschule abholt.

Jürgen Klapschuweit hat heute einen hellen Kapuzenpulli an. Bei der Auswahl hat ihm die App geholfen. Und beim Anziehen? „Die Schilder mit den Pflegehinweisen sind in Männer-T-Shirts und Pullovern alle auf der linken Innenseite“, verrät er. Wie sieht’s mit der Liebe aus? Flirten funktioniert ja bekanntermaßen über Blickkontakt. „Bei uns spielt der Geruch, die Stimme und letztlich die Sympathie eine große Rolle“, sagt der alleinstehende Vater. In der Altstadt erfahre ich wenig später, was es mit Klicksonar auf sich hat. „Man schnalzt mit der Zunge und merkt, ob der Schall zurückkommt. So bekommt man ein Bild von der Umgebung“, erzählt mein Guide. Wir landen schließlich an der Bushaltestelle in der Neugasse. Hier hat die Stadt zuletzt den Auffindestreifen von der Bushaltestelle bis zur Eisdiele verlängert. Auch stehen seitdem keine Stühle und Tische mehr im Weg. Insgesamt sei Meißen, so sagt Klapschuweit, nicht nur unkompliziert, sondern auch recht weit, was Barrierefreiheit für Blinde anbelangt. Die größten Herausforderungen für Blinde will ich wissen: Fahrradfahrer und E-Autos.

Und gehen Blinde wirklich ins Kino? „Ja. Die Besucher denken natürlich, es läuft versteckte Kamera. Doch es funktioniert“, sagt mein Begleiter. Nötig sei dazu nur eine App und Kopfhörer. Darüber erfahre man, was auf der Leinwand zu sehen ist.

Mann mit Blindenstock orientiert sich an der Bushaltestelle

„Was lange währt wird gut“

Es ist geschafft! Die Bushaltestelle auf der Neugasse ist nun auch für stark sehbehinderte und blinde Menschen nutzbar.

Pressemitteilung der KO – Meißen

Autorin: Eva Prinz, Kreisvorsitzende, KO Meißen des BSVS e. V.

Bild: Fotografin Claudia Hübschmann

Wie muss man denn das verstehen, wird sich der sehende Mitbürger bei dieser Meldung fragen. Die Haltestelle ist bereits seit der Rekonstruktion des gesamten Platzes im Jahr 2018 in Betrieb gegangen.

Einst war der Auffindestreifen nur zum Teil verlegt. Auffindestreifen? Dies ist ein unabdingbares Element um Barrierefreiheit für sehbehinderte und blinde Menschen zu schaffen. Dieser Auffindestreifen besteht aus weißen Rippenplatten, welche die Nutzer mittels des Langstocks (umgangssprachlich Blindenstock) ertasten können. Dieser Streifen muss über die gesamte Gehwegbreite verlegt werden, da sonst der blinde oder stark sehbehinderte Bürger die Haltestelle nicht finden kann.

Des Weiteren ist es wichtig, dass solche Leitsysteme ständig freizuhalten werden. Hier gab es in der Vergangenheit große Probleme durch eine gastronomische Außenfläche. Durch das Sondernutzungsrecht dieser Freifläche war es uns betroffenen Menschen unmöglich, unfallfrei vom oder zum Bus zu gelangen. Diese Situation konnte nur mit viel Nacharbeit behoben werden.

Die Kreisorganisation Meißen des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Sachsen möchte sich auf diesem Weg, im Namen aller Mitglieder, bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung Meißen bedanken, die mit uns gemeinsam eine Lösung erarbeiteten.

Unser besonderer Dank geht an Herrn Dittmann vom Ordnungsamt, welcher sich frühzeitig dieser Problematik annahm und die ersten Schritte einleitete, sowie der Ordnungsamtsleiterin Frau Zickler und deren MitarbeiterInnen, die diese Aufgaben ordnungsrechtlich zu Ende führten.

Weiterhin möchten wir uns bei Herrn Herr und Herrn Marek bedanken, welche für den planerischen und baurechtlichen Teil verantwortlich sind und immer ein offenes Ohr hinsichtlich Barrierefreiheit hatten und haben. Durch das gemeinsame Handeln aller Beteiligten ist die Haltestelle auf der Neugasse jetzt komplett Barrierefrei. Als Nebeneffekt ist ein funktionierender Weg für Blinde und Sehbehinderte zwischen Bus und Eisverkaufsfenster zu Stande gekommen.

Für zukünftige Projekte (wie z.B. Gestaltung des Bahnhofsvorplatzes oder Ausbau der Gehwege Niederauer Straße inkl. Fußgängerüberwege) ist es wünschenswert, dass bezüglich der Barrierefreiheit betroffene Einwohner bereits in die planerische Phase eingebunden werden um Nachbesserungsarbeiten zu vermeiden.

Dies könnte gelingen, wenn ein Behindertenbeirat gegründet wird, indem betroffene sachkundige Bürger der Stadt vertreten sind.

Hinweis: Dieser Artikel wurde ebenfalls im Lokalteil der Sächsischen Zeitung und den Wochenkurier für Meißen veröffentlicht.

Perspektivwechsel

-Mit Naturheilkunde stressfrei sehen-

Die Mitglieder des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Sachsen der Kreisorganisation Meißen informierten sich am Mittwoch den 29.9.2021 zum Thema „Naturheilkunde – Sehbehinderung und Blindheit.“ 

Frau Romy Sommer Heilpraktikerin, Osteopathin  und Physiotherapeutin, selbst sehbehindert, zeigt Möglichkeiten und Grenzen der Naturheilkunde auf. Sie erläuterte, wie gezielt chronische Entzündungen therapiert und deren Folgen beseitigt oder abgemildert werden können.

Frau Sommer stellte ebenfalls ihr Spezialgebiet Belastungsasthma bei 25-45-jährigen vor.

Abgerundet wurde der Vortag mit praktischen Übungen. Das Stirnchakra wurde aktiviert, somit können die Sinnesorgane besser mit Energie versorgt werden.

Abschließend beantwortete Frau Sommer im Einzelgespräch Fragen.

So konnte sich jeder der Anwesenden einen Einblick zur Naturheilkunde verschaffen, seine Chancen erkennen und sein zukünftiges Tun und Handeln darauf abstimmen.

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